„Liebt einander!“
„Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“
Liebe Schwestern und Brüder, obwohl es eigentlich geradezu unser Erkennungsmerkmal als Christinnen und Christen sein sollte, klingt dieses Gebot vielleicht erstmal romantisch, allgemein und im konkreten Alltag nicht erfüllbar. Hinter diesem „neuen Gebot“, wie es Jesus nennt, steckt aber mehr dahinter, als ein „Habt euch doch alle lieb.“. Denn diese Aufforderung Jesu hat, angesichts der bevorstehenden Katastrophe, des Verrats durch Judas und der eigenen Hinrichtung, eine ganz andere Gewichtung. Es geht nicht um einen allgemeinen „Zuckerguss der Nächstenliebe“, nicht um ein unerfüllbares romantisches Gefühl, sondern um etwas sehr Konkretes, inklusive der bitteren Erfahrung des Verrates.
Denn Christus hat auch seinem Verräter Judas die Füße gewaschen, obwohl er ihn durchschaut hatte. Er lässt Judas bis zuletzt die Chance, sein Jünger und in seiner göttlichen Liebe zu bleiben, obwohl ihm bewusst war, dass durch dessen Verrat ihm so wörtlich „nur noch kurze Zeit bleibt“. Und weil nur noch kurze Zeit bleibt, fasst er das wichtigste Erkennungsmerkmal der Jüngerschaft zusammen: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“. Erst mit der Zeit können die Jünger mehr und mehr diese österliche Gabe der Liebe Christi annehmen und aus ihr leben und wirken.
Der Grund dieses ausdrücklich „neuen Gebotes“, dieser besonderen Liebe ist in der Liebe Christi selbst zu seinen Jüngern begründet. Denn das Gebot war ansonsten gar nicht neu: Es steht im Buch Levitikus (19,18), verfasst im 15. Jh. vor Christus: „… Du sollst deinen Nächsten lieben …“.
Doch der Mensch ist mal mehr und mal weniger liebesfähig. Haben wir nicht alle diese Erfahrung schon gemacht, dass es auch mal wirklich schwerfällt, zu lieben? Besonders wenn jemand das Falsche tut, besonders, wenn mir jemand mit seinem Verhalten schwer schadet. Wir merken es im persönlichen Umfeld. Wir sehen es auch an den Ehen, die auseinandergehen. Trotz des Willens, zu lieben, finden sich leider nur allzu oft Gründe, nicht mehr zu lieben, und manchmal sogar das bittere Gefühl, dass die eigene Liebe verraten wurde.
Wir sehen es auch in der Welt, jetzt besonders deutlich am Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Aus der angeblichen „Bruderliebe“ zu den Ukrainern wurde ein tödlicher Hass, weil der schwächere „Bruder“ eigene Wege gehen will und nicht das tut, was der stärkere „Bruder“ für richtig hält. Vielleicht aus der Sicht von Putins Russland eine Art „verratene Liebe“? Und wie schwer fällt es den Ukrainern, angesichts der so zahlreichen und schrecklichen Kriegsverbrechen, die russischen Angreifer zumindest nicht zu hassen, nicht Böses mit Bösem zu vergelten, sondern z. B. bei gefassten Kriegsverbrechern, bei Vergewaltigern oder Plünderern eine menschenwürdige Behandlung und eine faire Gerichtsverhandlung zu ermöglichen?
Doch wie soll es darüber hinaus möglich sein, das zu erfüllen, was uns Christinnen und Christen Jesus gebietet, nämlich so zu lieben „wie ich euch geliebt habe“? Weder unsere menschlichen Verdienste noch unser tugendhaftes Leben sind der entscheidende Ermöglichungsgrund der christlichen Liebe zueinander. Und schon gar nicht, dass mein Nächster und meine Nächste das tut, was ich für richtig halte, sondern – und das ist neu – die Lebenshingabe Jesu.
Es ist also nicht mein Verdienst, wenn ich meinen Nächsten und meine Nächste uneigennützig liebe, sondern der Verdienst Jesu, der für diese Liebe am Kreuz sein Leben hingab. Erst dieser Zugang zu Gott, durch die Sakramente, eröffnet uns die Möglichkeit, nicht nur die zu lieben, die uns Gutes tun und uns nahestehen. Der Nächste ist der Mensch, der als nächster unsere Zuwendung braucht. Das kann auch mein Feind sein, ob im Krieg oder im Alltag, im Straßenverkehr oder sonstwo. Diese Liebe ist dann nicht mehr eine abstrakte Grundhaltung, der wir uns irgendwie verpflichtet fühlen sollen, nicht ein erzwungenes Gefühl, sondern ganz konkreter Liebesdienst als Pionier, als Missionar der Nächstenliebe.
Ein gutes Beispiel kann uns dafür die heilige Mutter Teresa († 1994) geben. Diese Ordensfrau gründete im Jahre 1950 die Gemeinschaft der Missionarinnen der Nächstenliebe.
Dazu eine kleine Kostprobe: Ein Reporter einer großen Zeitung hatte sie mal bei ihrer Arbeit begleitet. Er sah, wie sie in den Slums von Kalkutta die Sterbenden von der Straße aufsammelte, sie in ein Haus brachte und ihnen ein wenig das Gefühl menschlicher Nähe gab. Diese Ärmsten der Armen sollten zumindest in Würde sterben können. Beeindruckt von ihrer Arbeit sagte ihr dieser Reporter: „Nicht für eine Million Dollar würde ich das tun.“ Mutter Teresa antwortete ebenso kurz wie treffend: „Ich auch nicht.“
Liebe Schwestern und Brüder, nicht Geld, Karriere oder Macht waren die Motive ihres Handelns, sondern sie ließ sich von etwas oder besser gesagt von jemand ganz anderem leiten: „Lieben, wie er liebt; helfen, wie er hilft; geben, wie er gibt; dienen, wie er dient; retten, wie er rettet; 24 Stunden bei ihm sein; ihn in seiner jämmerlichen Verkleidung berühren“. Aus diesen Worten und aus ihrem Tun können wir entnehmen, dass sie eine Jüngerin Jesu, eine echte Missionarin der Nächstenliebe war. Mutter Teresa sagte einmal: „…ich bin überzeugt, dass er es ist, nicht ich. Dass es sein Werk ist und nicht mein Werk. Ich stehe ihm nur zur Verfügung. Ohne ihn kann ich nichts tun.“
Das Evangelium Jesu Christi ist eine große Schule der Liebe. Wie lernen wir also zu lieben? Der 1. Schritt kann sein, dass man Böses nicht mit Bösem vergilt. Dann der 2. Schritt: die Bedürfnisse und die Not der anderen zu lindern und zu helfen. Und der 3. Schritt ist, aus dieser Liebe Gottes in mir zu leben, ohne von den anderen etwas dafür zu erwarten, sondern selbst zu einer Wohnstätte der Liebe Gottes zu werden. Wenn wir also in diesem 3. Schritt – wie wir glauben – in der Eucharistie die Liebe Gottes empfangen, und für Gottes Liebe eine Wohnstätte bilden, dann können wir auch konsequent Schritt 1 und 2 anwenden: Böses nicht mit Bösem vergelten und uneigennützig die Not anderer lindern. Das ist nicht romantisch. Das ist konkret. Das Gebot ist erfüllbar: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“.
Pastor Pavlo Vorotnjak